DDR-Friedensrevolutionär Heiko Lietz in Köln: Sicherheit neu denken – die Gesellschaft zum Tanzen bringen!

Den folgenden Vortrag hielt Heiko Lietz, einer der führenden Köpfe der Friedens- und Menschenrechtsbewegung und der Friedlichen Revolution in der DDR, am 12. Oktober 2019 bei der Tagung „Sicherheit neu denken“ in der Melanchthon-Akademie in Köln.


Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Weggefährtinnen und Weggefährten auf dem Weg des Schalom,

Sicherheit immer wieder neu denken, ist eine große Herausforderung auf dem Hintergrund gewohnter Denkstrukturen. Und es ist eine noch größere, wenn dieses neue Denken auch zu ganz neuen Verhaltensweisen und grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen führt. Welche Erfahrungen wir  in der DDR dabei gemacht haben, eine ganze Gesellschaft zum Tanzen zu bringen, davon  möchte ich ihnen ein wenig erzählen.

Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg mit über 60 Millionen Toten hatten die Delegierten bei der Gründung des Ökumenischen Rat der Kirchen 1948 in Amsterdam entschieden dafür votiert, den Krieg grundsätzlich abzulehnen. Sie sagten:

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.

Das galt entsprechend auch für die Kirchen im geteilten Deutschland.

Als die DDR 1962 das Wehrdienstgesetz einführte, gab es Christen, die aus Glaubens- und Gewissensgründen den Wehrdienst verweigerten. Hier wurde das erste Mal nach der Amsterdamer Erklärung für die Kirche die Frage unausweichlich: Was ist der Wille Gottes in dieser Situation? Diese Frage wurde unausweichlich: zuerst für die Betroffenen selber und in der Folge dann auch für die Kirche als Ganzes. Denn sie war herausgefordert, diese jungen Männer, die in einer schwierigen Situation für sich eine Entscheidung treffen mussten, zu beraten. Es war eine Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten: Entweder den staatlich gesetzlichen Vorgaben gehorsam nachzukommen (seid untertan der Obrigkeit) oder dem Willen Gottes zu entsprechen, dass Krieg und jede Vorbereitung dazu nach Gottes Willen nicht sein soll, und damit dem Gesetz nicht nachzukommen. Blaupausen gab es nicht, auf die die Kirche zurückgreifen konnte.

Ein großer älterer Herr mit einem Rest grauer kurzgeschorener Haare, buschigen rötlich-grauen Augenbrauen und Brille, der ein helles Hemd und eine dunkle Weste darüber trägt, spricht in ein Mikro.

Heiko Lietz bei „Sicherheit neu denken“, 12.10.2019, Melanchthon-Akademie Köln. Foto: Stefanie Intveen

Für diese Männer stand viel auf dem Spiel. Das berufliche Weiterkommen war für viele gefährdet, und es drohte bei Verweigerung das Gefängnis. Wenn sich die Kirche in dieser Situation auch nicht eindeutig gegen das neue Wehrdienstgesetz aussprach, so ließ sie jedoch keinen Zweifel daran, dass sie den Totalverweigerern den Rücken stärkte und auch dem Staat gegenüber daran keinen Zweifel ließ. Damit war ein massiver Konflikt zwischen Staat und Kirche nicht mehr abzuwenden. Um diesen Konflikt etwas zu entschärfen, war der Staat einige Jahre später dazu bereit, den Verweigerern aus seiner Sicht eine Brücke zu bauen: er erließ 1964 eine Anordnung für einen waffenlosen Wehrdienst. Auch ich wurde einer dieser Bausoldaten, nachdem ich zunächst auch diesen Dienst abgelehnt hatte und deswegen für einige Zeit in Untersuchungshaft landete.

Aber eigentlich grub sich der Staat damit langfristig sein eigenes Grab. Denn seitdem kamen Jahr für Jahr die Widerständigen in diesen Baueinheiten zusammen und hatten ausreichend Zeit, gesellschaftliche Gegenkonzepte zu entwickeln und sie danach auch auszuprobieren. Die Kirchen boten dafür genügend Raum.

Der nächste massive Eingriff erfolgte 1978, als der Staat den Wehrunterricht für alle Schüler der 9. und 10. Klasse obligatorisch einführte. Das führte dieses Mal noch eindeutiger zu einem massiven Protest der Kirchen. Auch viele christliche Eltern weigerten sich, ihre Kinder daran teilnehmen zu lassen, obwohl das gesetzeswidrig war und sie damit das problemlose Weiterkommen ihrer Kinder auf die erweiterte Oberschule und die Universität gefährdeten. Im  Einzelfall ließ der Staat dann doch Ausnahmen zu. Betroffene Eltern schlossen sich mit anderen Christen zusammen und so entstanden weitere Friedenskreise, wie das auch bei uns in Güstrow passierte.

Als der Staat 1981 plante, auch Frauen zum Wehrdienst einzuberufen, entstand die Bewegung „Frauen für den Frieden“. Der Staat reagierte massiv und inhaftierte vorübergehend sogar einige von ihnen, wie etwa Bärbel Bohley und Ulrike Poppe.

Überall versuchte der Staat, die unterschiedlichen Aktivitäten, die für ein alternatives Friedenszeugnis eintraten, zu unterbinden. Aber das war inzwischen nicht mehr möglich. Die Anregung, am Ende des Kirchenjahres eine Friedensdekade in den Gemeinden durchzuführen, kam im Herbst 1980 von der ökumenischen Jugendarbeit. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend (AGCJ) und die Kommission für Kirchliche Jugendarbeit (KKJ) des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR hatten dazu Material erarbeitet, das vom Sekretariat des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR herausgegeben wurde. Auch hier war der Motor dieser Initiative ein Bausoldat.

Ein großer älterer Herr mit weißen kurzgeschorenen Haaren und Brille, der ein helles Hemd und eine dunkle Weste darüber trägt, spricht in ein Mikro.

Heiko Lietz bei „Sicherheit neu denken“, 12.10.2019, Melanchthon-Akademie Köln. Foto: Stefanie Intveen

Diese Friedendekaden wurden später zu eine der Wurzeln für die Ökumenische Versammlung im Rahmen des Konziliaren Prozesses. Von Anfang an war das Symbol Schwerter zu Pflugscharen das Kennzeichen der Friedensdekaden in der DDR. Die Kirche griff damit eine uralte prophetische Vision der Bibel wieder auf, die plötzlich ganz neue Kraft entfaltete. Konversion wurde wieder zum Leitmotiv vieler Friedensbewegten. Deswegen war es auch nicht verwunderlich, dass es deswegen mit dem Staat Anfang der 1980er Jahre zu harten Auseinandersetzungen kam. Das betraf vor allem Jugendliche, die dieses Symbol als Aufnäher an ihren Jacken trugen. Das war umso paradoxer, weil sich die Organisatoren dieses Symbol einem Denkmal entliehen, dass die hochgeschätzte Sowjetunion 1957 den Vereinten Nationen schenkte und vor dem UNO-Gebäude aufstellen ließ.

Es entstanden in den 80-er Jahren  immer bessere Vernetzungen zwischen den einzelnen Gruppen, aber auch zu den Kirchengemeinden. Diese Gruppen versammelten sich in der Regel in kirchlichen Räumen, auch wenn viele der Teilnehmer nicht unmittelbar der Kirche angehörten. In der Regel waren es kirchliche Mitarbeiter der Jugendarbeit, die in dieser Arbeit aktiv waren. Viele von ihnen waren durch ihre Zeit als Bausoldaten auch belastbarer und  konfliktfähiger geworden. So breitete sich die unabhängige kirchliche Friedensbewegung auf der Suche nach dem Willen Gottes in den Konflikten ihrer Zeit immer weiter aus.

Erste DDR-weite Friedensseminare wurden schon zu Beginn der 80-er Jahre, durchgeführt. Fast überall waren auch hier Bausoldaten die Inspiratoren dieser Seminare. Das war auch bei uns in Mecklenburg so. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Seminare, die unser Friedenskreis von 1982 – 1984 in Kessin bei Rostock organisierte, gehörten u. a. auch Bärbel Bohley, Markus Meckel und Roland Jahn. Auf diesen Seminaren wollten wir mit staatlichen Vertretern einen Dialog über die brisanten friedensethischen Fragen führen. Aber sie verweigerten uns den Dialog, weil wir für sie nicht die angemessenen Gesprächspartner waren. So kam es bei den Verantwortlichen Ende 1984 zu ersten Überlegungen, wie man das ganze System zum Tanzen bringen konnte. Auch Überlegungen zu einer friedlichen Revolution machten die Runde.

Ein Gedenkstein vor der Kirche mit der Aufschrift „Kessiner Friedensseminare 1982- 1984 – sie waren Bausteine einer friedlichen Revolution“, der in diesem Jahr feierlich errichtet wurde, erinnert seitdem an sie.

Auf viel breiterer Basis entfaltete sich dann ab 1983 das DDR-weite Seminar „Konkret für den Frieden“, in dem es zu einer verbindlicheren konstruktiven Zusammenarbeit zwischen den Basisgruppen der unabhängigen Friedensbewegung  und den verfassten Kirchen kam. Von Jahr zu Jahr erweiterte sich das Themenspektrum. Zu den Friedensgruppen gesellten sich nach und nach die Umweltgruppen, die Zweite-Dritte-Weltgruppen, die Frauengruppen und die Menschenrechtsgruppen. Es ging um Fragen des Friedens, der Umwelt, der Gerechtigkeit und der Menschenrechte, die dringender Antworten bedurften. Besonders die Menschenrechtsgruppen wurden für den Staat immer problematischer, weil sie begannen, die Menschenrechtsverletzungen DDR-weit zu sammeln, um sie an die UN-Menschenrechtskommission zu übermitteln. Der Staat reagierte darauf gegenüber einigen Aktivisten mit massiven Drohungen. 1990 hatten wir vor, eine DDR-weite Menschenrechtskonferenz durchzuführen. Aber das war dann nicht mehr nötig.

Aus dem Seminar „Konkret für den Frieden“ gingen dann 1989 die unabhängigen Bürgerbewegungen wie die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“, das NEUE FORUM, „Demokratie jetzt“ und der „Demokratische Aufbruch“ hervor. Den meisten Zulauf hatte das im September gegründete NEUE FORUM, weil es Raum schaffen wollte für einen demokratischen Dialog über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Ziel sollte es sein, Wege aus der gegenwärtigen krisenhaften Situation zu finden.

Sie alle wurden zu Trägern der Friedlichen Revolution und waren auch Initiatoren für den Zentralen Runden Tisch, der die Aufgabe hatte, die Gesellschaft gewaltfrei aus einem diktatorischen Unrechtsstaat in demokratische, menschenwürdige Verhältnisse zu führen. Seine wichtigsten Ziele bestanden darin, die ersten freien Wahlen vorzubereiten, einen Verfassungsentwurf für die DDR zu erstellen und die noch vorhandene Regierung und die Volkskammer in ihrer Macht zu begrenzen. Als einer der Vertreter des NEUEN FORUMS war das für mich schon eine großartige Erfahrung.

Hatten sich in der ersten Hälfte der 80-er Jahre vor allem nur einzelne kirchliche Synoden intensiv mit gesellschaftpolitischen Problemen befasst, so sollte sich das in der zweiten Hälfte der 80-er erheblich ändern. Der Impuls dazu kam von der Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen 1983. Auf ihr schlug die DDR-Delegation ein gesamtchristliches Friedenskonzil vor. Es müsse

geprüft werden, ob die Zeit reif ist für ein allgemeines christliches Friedenskonzil, wie es Dietrich Bonhoeffer angesichts des drohenden Zweiten Weltkrieges vor fünfzig Jahren für geboten hielt.

Die Vollversammlung beschloss nach intensiver Debatte, einen konziliaren Prozess der Kirchen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung durchzuführen. Dieser Beschluss entfaltete nach und nach eine neue Dynamik innerhalb der protestantischen Kirchen in der DDR. Die Initiative für eine Ökumenische Versammlung ging von einer Gruppe in Dresden aus, der sich nach und nach alle Kirchen in der DDR anschlossen. Der Funke, der zunächst von Basisgruppen ausging, sprang jetzt auf die Gemeinden und Kirchen über und führte zu einer intensiven Arbeit in der Ökumenischen Versammlung, die von 1988 bis 1989 in Dresden und Magdeburg tagte. Unter den 146 Delegierten waren auch viele Vertreter der Basisgruppen, die in die Versammlung eine größere Dynamik mit ihren radikalen Positionen brachten. Auf diesen Versammlungen wurden alle gesellschaftlich relevanten Fragen auf die Tagesordnung gesetzt und Antworten, die an der biblischen Botschaft orientiert waren, gesucht. Am Ende wurden im April 1989 in Dresden 12 Texte verabschiedet.

Der Basistext „Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ bildete für alle die theologische Grundlegung. Am brisantesten waren der Text 3: „Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartung“. Hier kam es schon auf der Abschlussversammlung hinter den Kulissen zu einem offenen Eklat mit dem staatlichen Vertreter.  Er forderte in einem Vier-Augengespräch vom leitenden Bischof, diesen Text so nicht zu verabschieden. Doch die Versammlung ignorierte diese Forderung und verabschiedete diesen Text mit einer satten Zwei-Drittel-Mehrheit.

Aber auch Text 4: „Der Übergang von einem System der Abschreckung zu einem System der politischen Friedenssicherung“ stellte wichtige Weichen in die Zukunft. Darin heißt es u.a.

Wir brauchen eine neue Friedensordnung, Friedenssicherung auf der Grundlage der gemeinsamen Sicherheit ist etwas so Neues und weit über den militärischen Bereich Hinausgehendes, dass eine Veränderung des Denkens, der Wertvorstellungen und ihrer Umsetzung in allen Lebensbereichen grundsätzlich neu gelernt und immer wieder konkret neu buchstabiert werden muss.

Diesen konziliaren Prozess weiterzuführen, ist damals ein wesentlicher Auftrag der Ökumenischen Versammlung an die Kirchen gewesen. Er wurde jedoch nur zu einem sehr geringen Teil umgesetzt, weil sich mit der Friedlichen Revolution und der Vereinigung beider deutscher Staaten grundlegendes im politischen Umfeld verändert hatte. Das ging auch an den Kirchen nicht spurlos vorbei, ganz im Gegenteil. Fast alle Energien flossen  jetzt vor allem in den evangelischen Kirchen in den organisatorischen Umbau. Deswegen ist es für mich ein hoffnungsvolles Zeichen, dass die Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 24. Oktober 2013 vielleicht auch bewusst daran angeknüpfte, als sie beschloss, Kirche des Friedens zu werden.

Ein älterer Mann in Sommerhose und Hemd steht rechts am Rednerpult. Links auf der Leinwand ist die Präsentation "Sicherheit neu denken. Europa zwischen militärischer Tradition und zivilen Lösungen" zu sehen.

Ralf Becker bei „Sicherheit neu denken“, 12.10.2019, Melanchthon-Akademie Köln. Foto: Stefanie Intveen


Heiko Lietz war Kriegsdienstverweigerer, evangelischer Pfarrer, Bürger- und Menschenrechtsaktivist in der DDR und nahm führende Aufgaben bei der Friedlichen Revolution 1989/90 in Mecklenburg-Vorpommern wahr. Er engagiert sich weiterhin für Gewaltfreiheit, gemeinsame Sicherheit und die Stärkung der Menschenrechte.

Wir freuen uns, dass wir seinen Vortrag hier veröffentlichen dürfen.

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