Rundbrief von Abed Schokry zur Lage in Gaza
Prof. Dr. Abed Schokry stammt aus Gaza und lebt seit 1992 in Deutschland. Am 05. August hat er einen aktuellen Rundbrief zur Lage in Gaza veröffentlicht, den wir an dieser Stelle abdrucken:
„Bonn/ G a z a am 05/08/2025
Liebe Freundinnen und Liebe Freunde,
Es geht weder mir noch meiner Familie in G A Z A gut. Und ehrlich gesagt, bin ich wegen der Nachrichten über den anhaltenden „Krieg“ in meiner Heimat sehr belastet – nicht nur wegen der menschlichen Tragödie, sondern auch, weil ich mich hier oft machtlos, sprachlos, ratlos, fassungslos, und hoffnungslos fühle. LEIDER. Denn die sich weiterhin verschärfende Hungersnot in meiner Heimat macht mich „FERTG“, denn ich
weiß nicht, was ich/man tun soll, damit dieser WAHNSINN endlich endet.
- Meine Familie und ich in Deutschland,
- Die absichtlich herbeigeführte humanitäre Katastrophe
- Die Bundesregierung muss endlich handeln und das Völkerrecht und die Menschenrechte beachten
- Nachricht von meiner Familie aus G a z a
- Israel und die UNO, die Hungersnot und das Aushungern der Menschen in G a z a,
- Der „Krieg“ in Zahlen,
- B‘TSelem, die israelische Menschenrechtsorganisation
- Wo bleibt der Frieden???
Meine Familie und ich in Deutschland
Das erste Schuljahr ist für unsere Kinder abgeschlossen und sie haben gute Zeugnisse bekommen, denn sie haben viel gelernt, und können inzwischen gut Deutsch sprechen. Also sie haben sich ganz gut ntwickelt. Die zwei Jüngeren werden in die nächsten Klassen versetzt und nehmen am regulären Unterricht teil, nur in dem Fach „Deutsch“ werden sie in eine andere Klasse gehen. Das heißt, dass sie sich gut integrieren konnten.
Für unsere zweitälteste Tochter, ist das Schuljahr ebenso gut gelaufen, sie lernt sehr fleißig Deutsch. Unsere Kinder sind gut angekommen, fühlen sich wohl, vermissen natürlich ihre Heimat bzw. ihre Freund:innen und wir sind sehr stolz auf sie. Meine Frau ist dabei, den Abschluss ihres Pharmaziestudiums in Deutschland anerkennen zu lassen, sodass sie dann als Apothekerin nach der deutschen Approbation hoffentlich arbeiten darf. Ich forsche zum Thema „Lärm“ und werde dann zu einem anderen Thema wechseln, da wird es bei mir dann um KI-Einsatz gehen. Wie können KI-tools für kleine Unternehmen eingesetzt werden und wie können wir die Interaktion mit KI-Tools noch humaner und benutzerfreundlicher gestalten?
Die absichtlich herbeigeführte humanitäre Katastrophe Was in Gaza passiert, ist eine menschengemachte humanitäre Katastrophe, für die nicht nur Deutschland eine Mitverantwortung trägt, sondern auch die Weltgemeinschaft. Denn in diesem „Krieg“ geht es längst nicht mehr um Verteidigung. Oder glaubt irgendwer wirklich, dass die eigentlichen Kriegsziele – Vernichtung der Hamas und Befreiung der israelischen Geiseln – auf diese Weise noch erreicht werden? Der ägyptische Präsident hat das auch heute in einer Rede gesagt.
Die Bundesregierung muss endlich handeln und das Völkerrecht und die Menschenrechte einhalten Bundeskanzler Friedrich Merz und Außenminister Wadephul selbst haben schon kritische Worte gefunden. Merz nannte das israelische Vorgehen mehrfach „inakzeptabel“. Wadephul legte letzte Woche nach; das „Sterben“ sei „unerträglich“.
Die Bundesregierung, die zu dieser Einschätzung kommt, muss endlich handeln. Der entschiedene Schutz der Menschen in Gaza ist unverzichtbar, um Menschlichkeit und Recht zur Geltung zu bringen – so, wie es im Völkerrecht und in der UN-Charta festgehalten ist. Nur so kann Palästinenser:innen und Israelis eine friedliche Zukunft ermöglicht werden, denn sie bedingen sich gegenseitig. Deutschland und die EU müssen
sich geschlossen gegen die Vertreibung der Palästinenser:innen stellen und alles tun, um einen Waffenstillstand, sicheren Zugang zu mehr und echter humanitärer Hilfe durch Wiederherstellung der alten UN-geführten Verteilmechanismen und eine politische Perspektive für Palästina als Staat zu ermöglichen. Wenn wir jedoch weiterhin wegsehen und das Morden und die Vertreibung zulassen, dann verraten wir das Völkerrecht und die universalen Menschenrechte.
Nachricht von meiner Familie aus G a z a
„Der Hunger hat von uns genommen, was er genommen hat. Es sind für uns mehr als 75 Tage vergangen, in denen wir kein EINZIGES MAL genug zu essen hatten und Nacht für Nacht gingen/ gehen wir hungrig ins Bett. Als gläubige Menschen bleibt ALLAH/GOTT unsere letzte Hoffnung auf ein besseres Leben.“ Meine Familie berichtet mir von verzweifelten Szenen: Menschen trinken verschmutztes Wasser und suchen im Müll nach Essbarem. Viele teilen nur eine Handvoll Reis pro Tag. Was mich besonders schmerzt, ist die Tatsache, dass diese Krise von Menschen gemacht ist. Die Blockade von Hilfslieferungen, die zerstörte Infrastruktur und fehlender Schutz für Zivilist:innen, verschärft das Leid täglich. Babys, kleine Kinder, stillende Mütter, alte Menschen und Menschen mit chronischen Krankheiten leiden sehr darunter.
Israel und die UNO, die Hungersnot und das Aushungern der Menschen in G a z a Israel zerstört das Hilfssystem der UNO, ersetzt es durch die militarisierte, unprofessionelle Organisation GHF – und beschuldigt dann die Vereinten Nationen, für den Hunger in Gaza verantwortlich zu sein. So funktioniert Desinformation.
Die Botschaften, die von Netanyahus Regierung übermittelt werden, sind verwirrend und widersprüchlich: Erstens gibt es angeblich keinen Hunger in Gaza (was eine Lüge ist). Zweitens wird behauptet, dass die UNO tatsächlich für die schlechte Versorgungslage verantwortlich sei (was ebenfalls nicht der Wahrheit entspricht). Drittens erlaubt Israel nun aufgrund des internationalen Drucks plötzlich wieder eine größere Menge an Hilfen. Es ließ sogar die minimale Menge von sieben Paletten Hilfe aus der Luft über Gaza abwerfen, was lediglich Symbolpolitik darstellt – und ein indirektes Eingeständnis, dass der Hunger tatsächlich existiert.
In der Zeit vom 27. Juli bis zum 2. August 2025 wurden nach israelischen Angaben 443 LKWs mit insgesamt 7853 Tonnen eingeführt. (Quelle: https://gaza-aid-data.gov.il/main/). Das entspricht 12.5% des täglichen und erforderlichen Bedarfs. Nach palästinensischen Angaben wurden 521 LKWs über die Grenze nach Gaza gelassen. Diese Differenz kann u. a. mit der Größe der LKWs zusammenhängen. Nach UN Angaben sind aber unter normalen Bedingungen 600 LKWs täglich notwendig als das Mindeste, was an Hilfsgüter (einschließlich Brennstoffe usw.) eingeführt werden muss. Wenn man die Tatsache dazu berücksichtigt, dass seit Monaten kaum Hilfsgüter eingeführt wurden, so müssten möglicherweise mehr als 1200 LKWs täglich eingeführt werden, um dem nötigen Bedarf gerecht zu werden.
Es besteht kein Zweifel daran, dass Israel diese Hungerkrise eigenständig herbeigeführt hat. Das Aushungern der Bevölkerung begann bereits im März, als die Regierung Netanyahu die Einfuhr von Hilfsgütern über Monate hinweg nahezu vollständig blockierte, um Druck auf die Hamas auszuüben. Netanyahu erklärte damals: »Israel hat beschlossen, keine Waren und Hilfsgüter mehr nach Gaza zuzulassen“. Der mächtige,
rechtsextreme Finanz- und Siedlungsminister Smotrich drückte es plastischer aus: Nicht einmal ein Weizenkorn wird nach Gaza gelangen.“ Smotrich hatte schon im vergangenen Jahr gesagt: „Es wäre gerecht und moralisch richtig, zwei Millionen Menschen in Gaza auszuhungern, nur wird die Welt uns nicht zulassen.“
Ab Mai übertrug die israelische Regierung die Verantwortung für die Verteilung von Hilfslieferungen an die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) – eine militarisierte, intransparente Organisation mit Verbindungen zur israelischen Armee und US-Unternehmern. Da die GHF gegen die humanitären Prinzipien von Neutralität und Unabhängigkeit verstößt, lehnen die UN und Hilfsorganisationen eine Zusammenarbeit ab, denn Hilfe darf nicht von einer Kriegspartei kontrolliert werden. Genau das geschieht hier jedoch faktisch. Doch warum hat Israel das funktionierende Hilfsverteilungssystem der UN und der mit ihr kooperierenden internationalen Hilfsorganisationen zerstört? Die Begründung, die immer wieder vorgebracht wurde, lautete: Die Hamas stehle systematisch Hilfsgüter von der UN, um sich zu finanzieren.
Beweise blieb Israel schuldig. Die UN selbst wies den Vorwurf stets klar zurück. In der vergangenen Woche wurde ein interner Bericht der US-Hilfsagentur USAID veröffentlicht: Man habe keinen Beleg dafür, dass die Hamas systematisch Hilfe abzweige. Die »New York Times« enthüllte sogar, gestützt auf Informationen aus israelischen Militärkreisen, dass die Armee selbst nie einen Beweis dafür gefunden hatte. Wenn es vereinzelt zu Plünderungen gekommen sei, dann durch lokale Banden, und in der Regel sei auch nicht die UN betroffen gewesen, sondern kleinere Hilfsorganisationen. Das UN-System hat sich bei der Verteilung als äußerst effizient erwiesen. Anders ausgedrückt: Die Erzählung über den massiven Hilfsgüterklau der Hamas ist bisher nicht nachgewiesen – wird jedoch gezielt als Propagandainstrument verwendet und wurde vielfach aufgegriffen – auch deutsche Politiker wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Armin Laschet haben sie wiederholt. In einigen Medien fand sie als vermeintliche Tatsache Eingang in die nachrichtliche Berichterstattung. Diese Behauptung diente der israelischen Regierung als Vorwand, um das Hilfsverteilsystem der UN und die mit ihr kooperierenden Hilfsorganisationen zu ersetzen. Die GHF übernahm nun die Hilfsverteilung, was katastrophale Folgen hat. Die fragwürdige Organisation verteilt Hilfe nur an vier militärisch gesicherten Standorten, zu denen die Menschen teils stundenlang zu Fuß gehen müssen und an denen chaotische Zustände herrschen. Laut UN wurden seit Mai in Gaza mehr als 1200 Menschen beim Versuch, an Nahrung zu gelangen, getötet. Es ist von großer Bedeutung, hervorzuheben,
dass die GHF lediglich VIER Verteilzentren im gesamten Gazastreifen (nur im Süden) hat, während die UN an etwa 400 Verteilstellen die Menschen versorgen konnte. Seit Beginn des Krieges wird Gaza fälschlicherweise immer wieder so dargestellt, als kämen aus dem Gazastreifen angeblich keine glaubwürdigen und korrekten Informationen – obwohl es verifizierbare Berichte und Bilder gibt. Doch die Botschaft aus dem propagandistischen Paralleluniversum lautet: In Gaza gibt es keine Opfer, nur Terroristen. In sozialen Netzwerken kursieren folgende Sätze: Jedes Bild aus Gaza sei inszeniert, jede Szene manipuliert. Es handelt sich um eine absichtliche Entmenschlichung – mit dem Ziel, jegliches Leid zu leugnen. In Gaza leben ja „menschliche TIERE“. Auch Hilfslieferungen aus der Luft sind unzureichend, teuer und ineffizient, darin sind sich die Hilfsorganisationen einig. Heute ist ein Paket auf einen Menschen gefallen und infolgedessen ist der Mann verstorben.
Der „Krieg“ in Zahlen am 05.08.2025 (nach Palästinensischen Angaben)!
Die Zahl der Getöteten: 61020
Die Zahl der Verletzten: 150671
Hungersnot-Opferzahl: 188, darunter 94 Kinder, 51 Mitarbeiter des Palästinensischen Roten Halbmondes wurden getötet und 35 verhaftet,
Zahl der Palästinensischen Gefangenen: 10800, darunter 48 Frauen, 450 Kinder.
B‘TSelem, die israelische Menschenrechtsorganisation
Sowohl die israelische Menschenrechtsorganisation B‘TSelem als auch die israelische Gruppe „Physicians for Human Rights“, beide Organisationen haben das Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen als Völkermord bezeichnet. Es kommen dazu viele Akademiker, Schriftsteller, wie z.B. David Grossman, die ebenfalls von Völkermord sprechen. (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/david-grossman-wirft-israel-genozid-vor-110620244.html) , https://www.btselem.org/
Wo bleibt der Frieden????
Wo bleibt der Frieden? Heinrich Böll schrieb: „Einmischen! Das ist die einzige Möglichkeit, eine Änderung herbeizuführen“. Ohne Druck von außen wird kein Frieden erreicht. So bitte ich Sie und Euch alles zu tun, was möglich ist, damit dieser WAHNSINN endlich aufhört und der Weg zum Frieden geebnet werden kann.
Mit traurigen und solidarischen Grüßen
Abed Schokry“

