Stefanie Intveen: Wie können wir genauere friedenspolitische Positionen zur Corona-Krise entwickeln? Versuch einer Ermutigung

Der folgende Beitrag vom 11.4.2021 erschien zuerst in der „ZivilCourage“ 1/2021, der Verbandszeitschrift der DFG-VK.


Länger als Wuhan: Der längste Corona-Lockdown der Welt gilt auf den Philippinen. Für Menschen, die ihre Häuser verlassen, weil sie hungern, hat der berüchtigte Präsident Duterte einen Satz übrig: „Erschießt sie!“ (Welt, 25.5.2020)

Konflikte können sich zu gewalttätigen Kämpfen entwickeln, sie können aber auch positive Entwicklungen auslösen. Die Chancen dafür steigen mit Fähigkeiten zum konstruktiven Konfliktaustrag. (Hanne-Margret Birckenbach)


Die „Kooperation für den Frieden“ skizzierte am 29.5.2020, warum die Corona-Krise auch ein friedenspolitisches Thema ist:

Nicht nur das Virus gefährdet die Gesundheit, sondern auch die Maßnahmen gegen seine Ausbreitung bringen Gefahren für Gesundheit und Leben mit sich. Insofern ist die kritische Auseinandersetzung sowohl mit den „Corona-Maßnahmen“ als auch mit den Unterlassungen in der Prävention und in der Anfangsphase eine Aufgabe sozialer Bewegungen.

Christine Schweitzer berichtete etwa zur gleichen Zeit:

In etlichen Ländern haben Militär und militarisierte Polizei den Lockdown zum Vorwand genommen, ihre Machtbefugnisse nicht nur auf die Pandemie beschränkt vorübergehend wie in Deutschland, sondern dauerhaft auszubauen (Ungarn) und mit Gewalt gegen Oppositionelle oder bestimmte ethnische Gruppen vorzugehen.

In der DFG-VK Gruppe Köln haben wir angefangen, uns mit der Krise auseinanderzusetzen. Natürlich forderten wir schon „vor Corona“, die staatlichen Ressourcen aus den Militärhaushalten auf den Gesundheitssektor umzulenken (#FundHealthNotWar). Es fällt uns aber schwer, die Krise aus unserer friedenspolitischen Sicht genauer zu beschreiben und präzisere Forderungen zu entwickeln. Wieviel staatliche Gewalt zur Durchsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen halten wir für angemessen? Der Versuch, hierzu eine Position zu entwickeln, führt leicht in ein auswegloses Gestrüpp wissenschaftlicher Kontroversen über das Risiko, an CoViD-19 zu erkranken, und die Ausgestaltung von staatlichen Schutzmaßnahmen. Denn bereits vor der „Pandemie-Erklärung“ der WHO am 11.3.2020 zeigte sich ein scharfer Gegensatz in medizinischen Fachkreisen über genau diese Fragen, und dieser Gegensatz hält bis heute an.

Die Bundesregierung, der Bundestag und der überwiegende Teil der privaten und öffentlich-rechtlichen Medien entschieden sich im März 2020, denjenigen Fachleuten zu folgen, die das Erkrankungsrisiko als außerordentlich hoch ansahen und Szenarien mit katastrophal hohen Opferzahlen bei fehlenden Schutzmaßnahmen rechneten. Sie ergriffen oder unterstützten daher außerordentlich weitgehende Maßnahmen. Die „Corona-Maßnahmen“ greifen in zahlreiche Grundrechte ein und können – als Katalysator- oder Nebeneffekt – Strukturen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaft ändern. Gleichzeitig mit dem Start der Maßnahmen setzte eine öffentliche Diskreditierung der unterlegenen Fachleute und ihrer Anhänger*innen ein. Es entstanden zwei Lager, die sich zum Teil feindselig gegenüberstehen. Bis heute erschwert das eine konstruktive Auseinandersetzung über eine sinnvolle „Corona-Politik“.

Beide Lager berufen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und die Grundrechte und drücken aus meiner Sicht nachvollziehbar und berechtigt ihre Ängste aus. Der entstandene Riss zieht sich durch viele Gemeinschaften: Vereine, Familien, Betriebe, Gewerkschaften, Unternehmensverbände, Fachverbände, Kirchengemeinden, Parteien und Friedensorganisationen. Das behindert die Erarbeitung gemeinsamer konstruktiv-kritischer Positionen zur „Corona-Politik“ und kann im schlimmsten Fall zu eskalierenden Streitigkeiten oder dem Rückzug von Mitgliedern solcher Gemeinschaften führen. Gerade in der Krise sollte die Zivilgesellschaft nicht verstummen.

Fünf Leute mit Mund-Nasen-Schutz halten zwei Transparente und bunte Friedensfahnen am Rand eines gepflasterten Platzes.

„Aus der COVID-19-Pandemie lernen: Geld für die Gesundheitsversorgung und den zivilen Katastrophenschutz statt für das Militär!“ bei Demo „Nein zu Ausgangssperren!“ am 17.4.2021 auf dem Heumarkt in Köln. Foto: Stefanie Intveen

In der Friedensbewegung fordern wir, internationale Konflikte zivil zu bearbeiten. Hier ist nun ein nationaler Konflikt mit globaler Dimension, der uns alle persönlich betrifft. Warum sollten wir nicht versuchen, unserer Forderung selbst nachzukommen? Welchen Beitrag zur Versöhnung könnten wir als Friedensbewegung leisten? Wie sollte über das strittige Thema aus friedenspolitischer Sicht gesprochen und verhandelt werden? In unserer Kölner Gruppe gibt es ein breites Meinungsspektrum zur Corona-Krise. Wenn hier oder in anderen Gruppen eine Versöhnung gelingt, kann sie Modellcharakter bekommen. Daher sind auch kleine Ansätze, die in diese Richtung gehen, wertvoll.

Mit dem Begriff „Versöhnung“ meine ich hier nicht die Einigung auf eine bestimmte fachliche Sicht des Erkrankungsrisikos, sondern nur die Einigung auf einen Prozess und auf Grundlagen für die Diskussion über das Thema. Als „Friedensbewegte“ eignen wir uns dafür, weil wir uns an den in der Charta der Vereinten Nationen verbrieften Menschenrechten orientieren und uns für Großkonflikte interessieren. Wir eignen uns auch deshalb, weil es bei uns Friedensfachkräfte, Mediator*innen und ähnlich geschulte Fachleute gibt, die sich mit ziviler Konfliktbearbeitung auskennen.

Moderierte Gesprächsformate können einen partnerschaftlichen Austausch auch bei gegensätzlichen Auffassungen und Interessen ermöglichen. Eine Übung zum Wechsel der Konfliktperspektive beispielsweise macht die Gefühle, Ängste und Wünsche der Gruppenmitglieder für alle sichtbar. Als erfreuliches Nebenergebnis lernen sich die Teilnehmer*innen besser kennen und können die Gründe für gegensätzliche Meinungen besser nachvollziehen. Das funktioniert auch bei Videokonferenzen. Das tiefere Verständnis öffnet den Raum für die Entdeckung von Übereinstimmungen und die Entwicklung politischer Forderungen.

Solche Forderungen können sich an fünf Prinzipien der Friedenslogik orientieren (Hanne-Margret Birckenbach, s.o.): Gewaltprävention, Konflikttransformation, Dialogverträglichkeit, Normorientierte Interessenentwicklung und Fehlerfreundlichkeit.
Die Themenfelder und Erfahrungen aus „klassischen“ Bereichen der Friedensbewegung, die in der Corona-Krise berührt werden, sind reichlich vorhanden: multinationale Organisationen, Lobbyismus, internationale Solidarität, Medien, Gewaltenteilung, Verfassungsrecht, Ethik, Wirtschaftspolitik, Kinderrechte, Menschenrechte usw. Was könnte beispielsweise „internationale Solidarität“ in der Corona-Krise genauer heißen? Welche friedenspolitischen Forderungen können sowohl Gegner*innen als auch Befürworter*innen der „Corona-Maßnahmen“ übereinstimmend erheben?

Auch gegensätzlich bleibende Auffassungen sind es wert, notiert zu werden. Ein Friedensfreund aus Düren erklärte mir, in den 1980er Jahren sei es weitverbreitete Praxis in der Friedensbewegung gewesen, „Konsens-Dissens-Papiere“ zu schreiben. Man schreibt darin auf, welche Positionen man teilt und wo man unterschiedlicher Auffassung ist. Das habe geholfen, einer Zersplitterung der Friedensbewegung vorzubeugen und in der Sache weiterzukommen. Warum sollte das nicht auch heute möglich sein?


Die DFG-VK Gruppe Köln hat 126 Mitglieder. Etwa fünfzehn beteiligen sich regelmäßig an den monatlichen Treffen und Aktionen. Die Gruppe unterstützte im April 2020 eine Klage gegen die Stadt Köln, die den Ostermarsch-Auftakt verboten hatte. Im Dezember 2020 unterstützte sie erfolgreich eine weitere Klage gegen die Stadt Köln, die die Höchstzahl der Teilnehmenden bei der Veranstaltung „Abrüsten statt Aufrüsten!“ einschränken wollte. Zunächst verspürte die Gruppe keinen Wunsch, sich intensiver mit der Corona-Krise auseinanderzusetzen. Bei ihrem Gruppentreffen am 27. August 2020 erhob sie zum ersten Mal ein Meinungsbild der zwölf anwesenden Mitglieder. Der Wunsch nach Aussprache brannte vielen unter den Nägeln, denn die zweite große „Querdenken-Demo“ in Berlin, die unmittelbar bevorstand, war von den Behörden verboten worden. Es zeigte sich, dass die Sorgen und Einschätzungen stark auseinanderliefen. Manche hielten die Regierungspolitik für sinnvoll und notwendig, andere für übertrieben und gefährlich. Bei dem virtuellen Gruppentreffen am 25.2.2021 diente die Corona-Krise als Themenschwerpunkt.


Der Artikel wurde am 11.4.2021 fertiggestellt und erschien zuerst in der „ZivilCourage“ 1/2021, der Verbandszeitschrift der DFG-VK. Die Druckversion enthält zusätzlich alle Quellenangaben.

Stefanie Intveen gehört zu den Sprecher*innen der DFG-VK Gruppe Köln.

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